Lexikon

Aus: Rock in Deutschland auf CD-ROM

Ideal

Ab April 1980 firmierten Annette Humpe (Gesang, Keyboards), der Bassist und Sänger Ernst Ulrich Deuker (13.7.1954), der Gitarrist und Sänger Frank Jürgen (Eff Jott) Krüger (24.12.1948) und der Schlagzeuger, Percussionist und Sänger Hans-Joachim Behrendt (15.2.1955) offiziell als Ideal. Noch im Februar des Jahres traten Humpe - die auch bei den Neonbabies mitwirkte - und Krüger mit anderen Musikern, darunter der Neonbabies-Drummer Toni Nissl, im Kant Kino mit den X-Pectors auf, bevor man diese Formation im März aufgab und mit leicht veränderter Besetzung als Ideal reformierte.

Annette Humpe, die bereits mit sechs Jahren Klavierstunden erhielt, später sechs Semester Komposition und Klavier an der Musikhochschule Köln studierte, hatte erste Spontanauftritte gemeinsam mit ihrer Schwester Inga. Erste Banderfahrungen machte die in Herdecke / Ruhr geborene Musikerin mit den Formationen "Group Therapy" und "Pink Wave". Später sang und spielte sie gemeinsam mit Inga Humpe kurzfristig bei den Neonbabies, bevor sie mit Eff Jott Krüger von den X-Pectors zu Ideal wechselte. Eff Jott Krüger, nach eigenem Bekunden ein "53 Jahre alter, perverser Gitarrist und Sänger" - für die Medien ein gefundenes Fressen - hatte einschlägige Erfahrungen im Jazzbereich. Ein Kurzgastspiel beim Release Music Orchestra steht in seiner musikalischen Biographie. Auch Ernst-U. Deuker kam vom Jazz-Rock, den er u.a. mit der Gruppe Margo auf die Bühne brachte. Hansi Behrendt schließlich, ein gelernter Percussionist, tourte mit Deutschlands Nr.1-Jazz-Gitarrist Volker Kriegel und dessen Mild Maniac Orchestra, bevor er zum Schlagzeug fand und sich innerhalb kürzester Zeit bei den Neonbabies, der Deutschen Bundes-Band (wo er Deuker traf) und eben Ideal zu einem der Topschlagzeuger der deutschen Musikszene entwickelte.

Der MUSIK EXPRESS druckte später nach der ersten LP-Veröffentlichung: "Ich empfinde es als Wohltat und einen starken Schritt der Musiker, den ach so kulturellen Background zu verleugnen und sozusagen unter Niveau zu spielen, was nichts weiter heißt, als unter der eigenen Leistungsgrenze. Zugunsten einer in Deutschland selten gehörten Lockerheit. Weniger ist mehr". Der Rezensent reagierte damit auf Diskussionen innerhalb der Szene, inwieweit eine Musik, wie sie Ideal Mitte '80 dem deutschen Hörer präsentierte, von ehemaligen Jazzern und Jazz-Rockern als authentisch akzeptiert werden dürfe.

Im Mai 1980 veröffentlichte Ideal die erste, für das bandeigene Eitel Imperial-Label produzierte Single "Wir stehn auf Berlin" / "Männer gibt's wie Sand am Meer", die schon bald vergriffen war. Am 2.5. - während Spliff im Kant Kino debütierten - hatte Ideal ebenfalls den ersten Auftritt in der TU Mensa in Berlin. Der erste wesentliche Gig fand allerdings - auch im Mai - im Tempodrom beim Berliner Rock Circus (neben Bel Ami, PVC, Tempo und Z) statt, der für Radio und Fernsehen mitgeschnitten wurde. Die ARD strahlte das Ereignis später unter dem Titel "Sie verlassen den amerikanischen Sektor" aus. Auch ohne Langspielplatte hatte Ideal viel Presseresonanz: ein Medienphänomen, das selten zu beobachten ist. Diese Präsenz im deutschen Blätterwald steigerte sich im Spätsommer ins Unermeßliche. Die britische Romantic-Rockband Barclay James Harvest, vor allem in der Bundesrepublik erfolgreich, ließ sich auf dem Gelände des Berliner Reichstages ein Danke schön-Open Air (das für Promotion, Liveaufnahmen, Film- und Videoproduktionen ausgenutzt werden sollte) für die deutschen Fans organisieren. 150.000 Besucher kamen auf das Gelände nahe der Mauer und waren besonders von Ideal begeistert, eine von mehreren Gruppen, die für das Vorprogramm verpflichtet wurden. Gerade die vier Musiker waren die großen Nutznießer dieser Großveranstaltung. Die Fernsehnachrichtensendungen Tagesschau und Heute reagierten auf das Rockereignis. Aber nicht Barclay James Harvest flimmerten im August 1980 in die deutschen Wohnzimmer, sondern Ideal. Das bedeutete den bundesweiten Durchbruch für die Neo-Schlager-Formation aus Berlin. Unmittelbar nach dieser Bewährungsprobe gingen die vier Musiker ins Studio, um für das von Synthesizer-Spezialist Klaus Schulze ins Leben gerufene IC (=Innovative Communication)-Label die erste LP zu produzieren. Die erschien im November 1980 und bereits einen Monat später waren 13.000 Einheiten abgesetzt. "20.800 LPs müssen verkauft werden, um die Kosten der Produktion wieder einzuspielen," hatte das alternative Kleinlabel bei Veröffentlichung verlauten lassen, froher Hoffnung, aber keineswegs im festen Glauben an den kommerziellen Erfolg.

Am 9. Januar 1981 durfte Ideal den Titel "Rote Liebe" im ZDF-Kulturmagazin "Aspekte" vorstellen. Bei einer ersten kurzen Konzertreise durch die BRD im Februar mußten bei überraschend großer Publikumsresonanz erste Zusatzkonzerte angesetzt werden. Im März schließlich ging man zusammen mit anderen Berliner Bands (darunter Morgenrot und die Insisters) im Berliner Rock Circus-Package auf Deutschlandtournee durch zehn Städte. Im Mai waren bereits 70.000 Einheiten des Albums verkauft, über das SOUNDS schrieb: "Ideale Tanzmusik, die dazu angetan ist, die belanglosen Synthiespielereien der Möchtegern-Avantgarde als auch die auf der Stelle stapfenden Popper und Wopper-Rhythmen aus dem Recorder zu verdrängen".

Erste Auslandsauftritte führten Ideal im Juni 1981 zu den deutschsprachigen Nachbarn. Das Album stieg bis auf Platz 3 in den deutschen LP-Charts. Ideal verließ das IC-Label und unterschrieb einen neuen Vertrag beim WEA-Konzern in Hamburg. Im Juli zeichnete der WDR-"Rockpalast" ein Konzert in Köln auf, im August trat Ideal vor 22.000 Fans auf der Berliner Waldbühne vor die Kameras der SFB-Rocknacht-Macher. Dieser Auftritt wurde bundesweit ausgestrahlt. Danach begann die Studioarbeit am zweiten Album. Gemeinsam mit dem Produzenten Conny Plank entstand "Der Ernst des Lebens".

Mit der Veröffentlichung im Oktober erhielt Ideal die erste Goldene Langspielplatte für das LP-Debüt (mehr als 250.000 verkaufte Exemplare). Damit wurde zum ersten Mal in der BRD auch ein Produkt einer unabhängigen Plattenfirma vergoldet.

Die Band feierte diesen Triumph u.a. in der Live-Sendung "Litera-Tour", die während der Frankfurter Buchmesse vom ZDF produziert wurde. 70.000 Fans sahen Ideal bei 27 ausverkauften Konzerten während der Reise 81/82, die schwerpunktmäßig im November und Dezember über deutsche Bühnen ging. Auch in Wien und Zürich gab man seine musikalische Visitenkarte ab. "Tanzen ist wieder wichtig. Tanzmusik deshalb auch - von Ideal: modern, treibend, dann und wann ein illustrierender Schlenker ins Morgenländische oder sonstwohin", umriß der MUSIK EXPRESS die neuen Aspekte von "Der Ernst des Lebens". SOUNDS ergänzte: "Die Geschichten, die Ideal erzählen, waren nicht länger 'banal' munter, sondern voller Kühle und Fatalismus".

Beim Abschlußkonzert zugunsten der Berliner Hausbesetzer erhielt Ideal die zweite Goldene, diesmal für "Der Ernst des Lebens" (Platz 4 in den Albumcharts). Der MELODY MAKER schrieb über Ideal: "Ideal könnten Europas Antwort auf die B-52s werden. Schräge Orgelmelodien, sprunghafte Tanzrhythmen, Bubblegum-Chöre als Rahmenwerk für ihren stilvoll mutierten Pop, eine seltsame Mischung aus Surf-Punk, Garagenpsychedelic und ZE-Funk". Ernst Ulrich Deuker gab dem Reporter des NEW MUSICAL EXPRESS auf die Frage zum Ideal-Stil zu Protokoll: "Wir bringen die gute Tradition des deutschen Fünfziger-Jahre-Schlagers auf den Stand der Achtziger." Das amerikanische Branchenblatt BILLBOARD schließlich erkannte in Ideal "Deutschlands wichtigste Gruppe seit Kraftwerk". Am 5. Februar erhielt Ideal Platin für 500.000 verkaufte Platten des Erstlings.

"Der Ernst des Lebens" wurde in Holland, Belgien, Frankreich und Dänemark veröffentlicht. Auftritte in Frankreich ('live' für die französische Radio- und Fernsehsendung 'Feedback', die die LP zur Platte der Woche erklärte), Holland (No Nukes-Festival in Utrecht) und Belgien (im Vorprogramm von John Watts, Ex-Fisher Z) folgten. Und in Deutschland standen sie neben Trio, Roger Chapman, Black Uhuru, Wolfgang Ambros, Frank Zappa, u.a. bei den Happy Summernight Open Airs in vier Freiluftarenen auf der Bühne. Längst hatte die Band mit den Vorbereitungen für die dritte Langspielplatte begonnen, unterbrochen durch die Veröffentlichung von "Der Ernst des Lebens" in England, Konzerten in London, beim Roskilde Festival in Dänemark und einem Open Air in St. Gallen. Abschluß der Sommeraktivitäten bildete ein Konzert beim Jazzfestival in Montreux / Schweiz. Die erste LP ging von IC in den WEA-Katalog über. Die Single "Monotonie" wurde in Australien veröffentlicht.

Fernab vom heimischen Berlin entstand im September und Oktober 1982 im Sound Mill Studio in Wien unter der Regie von Gareth Jones und Micki Meuser (Nervous Germans, Ina Deter Band) das dritte Album "Bi Nuu". "'Bi Nuu' ist keinesfalls zu verwechseln mit dem sanften Saxol, vielmehr ist es vergleichbar mit dem außergewöhnlichen Kopflan. Obwohl es sich noch immer deutlich unterscheidet vom bahnbrechenden Punk-Stil, das wiederum doch kein Ersatz für das strenge Aktul war, könnte man es genauer genommen als Weiterentwicklung des epochalen Sülzerol und dessen bewährten Nachfolgers Doopelklirrdon bezeichnen". Mit solchen Pressetexten ironisierte Ideal die Interpretierfreudigkeit deutscher Journalisten, denen man mit dem Phantasiewort "Bi Nuu" Wasser auf die Mühlen gegossen hatte. Diese bewußte Abstraktion konnte auch als Abgrenzung gegen alles Wellen-Denken jener Tage verstanden werden. Auch musikalisch hatte man sich gelöst von etwaigen Erwartungshaltungen, um dem Erfolgsdruck zu entgehen. Einzige Maxime für die neuerliche Studioarbeit war "dem eigenen Geschmack, der eigenen Lust zu folgen".

Das Ergebnis war ein Album von bestechender Leichtigkeit und stilistischer Vielfalt und Offenheit. Am 27.1.1982 strahlte das deutsche Fernsehen den Single-Titel "Keine Heimat" im Rahmen der Verleihung der "Goldenen Europa" des Saarländischen Rundfunks (mit Ideal als Preisträger) aus. Mit "Ask Mark ve Ölum" war auch ein Titel in türkischer Sprache auf "Bi Nuu" vertreten. Beim Benefizkonzert für den Frankfurter Club Batschkapp (wo Ideal eines ihrer ersten Konzerte gab) in der Offenbacher Stadthalle gab Ideal -wie sich später herausstellen sollte- das letzte Konzert der kurzen Karriere. Im Dezember stieg "Bi Nuu" in die Charts ein, erreichte allerdings als höchste Notierung nur den 20. Rang. Die Umsätze blieben hinter den Erwartungen der Plattenfirma zurück. Eine zunächst geplante, neuerliche Deutschlandtournee wurde abgesagt. Am 31.3.1983 erreichte ein Telex der Gruppe die Medien: "Die Gruppe Ideal löst sich auf. Ideal war von Beginn an als ein Projekt geplant, eine Arbeitsgemeinschaft, die so lange bestehen sollte, wie die Unterschiedlichkeit der einzelnen Mitglieder die Arbeit spannend und kreativ machte. Unsere Musik war immer Resultat der Auseinandersetzung von vier verschiedenen Persönlichkeiten, nicht um Kompromisse, sondern Songs zu (er-) finden, auf die jeder stehen konnte. In drei tollen Jahren haben wir aus dieser Konstellation das beste rausgeholt."

Erst im Juni des Jahres erschien mit "Zugabe" ein Live-Album der Berliner Band, ein "Andenken, Abschiedsgruß und Dankeschön an die Fans" (Ideal) mit allen Hits, dem unveröffentlichten Titel "Acryl", der ersten Single-Rückseite "Männer gibt's wie Sand am Meer" und dem neu abgemischten "Schöne Frau mit Geld".

Zur gleichen Zeit, da man in Deutschland für "Zugabe" warb, erschienen auch Anzeigen für das Albumdebüt der Wiener Kabarettisten Tauchen und Prokopetz, zwei ehemaligen Mitstreitern von Wolfgang Ambros ("Der Watzmann ruft"). Bereits im Frühjahr hatte Annette Humpe die LP von DÖF (= Deutsch-Österreichisches Feingefühl) in Wien produziert, Songs für das Duo geschrieben und zusammen mit ihrer Schwester Inga auch auf dem Album gesungen. LP wie Single ("Codo") entwickelten sich in Österreich zu Umsatzrennern. Das Team erhielt Gold. Und auch in Deutschland wurde der Ohrwurm zu einem Nummer 1-Hit im August '83.


IDEAL (1980) WEA 58716
DER ERNST DES LEBENS (1981) WEA K 58 400
BI NUU (1982) WEA 24-0044
ZUGABE (1983) WEA 24-0188
Annette Humpe mit Tauchen/Prokopetz:
DÖF (1983) WEA 24-0187

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