Lexikon

Aus: Rock in Deutschland auf CD-ROM

Kraftwerk

Ralf Hütter
Stimme, Elektronik (20.8.1946), Florian Schneider Stimme, Elektronik (7.4.1947), Karl Bartos Elektronisches Schlagzeug, Wolfgang Flür Elektronisches Schlagzeug

Auf der Akademie Remscheid trafen sich 1968 Ralf Hütter und Florian Schneider und schmiedeten gemeinsam an Zukunftsplänen, die sie in einer "Organisation" verwirklichen wollten. Reichliche musikalische Erfahrungen brachten beide ein. Ralf Hütter studierte 10 Jahre lang Klavier, Florian Schneider studierte am Konservatorium Flöte und spielte zeitweise in Jazzbands.

Testaufnahmen der Hütter / Schneider-Organisation wurden 1969 in England gar als Platte veröffentlicht. Nachdem bei einem Berliner Konzert Gurken und Tomaten auf die Bühne flogen, besann sich das Duo auf Naheliegendes und projizierte seine Musik "auf die Wirklichkeit, die akustische Darstellung des Ruhrgebietes" und musizierte ab Januar 1970 als "Kraftwerk".

Um autark zu sein und zeitunabhängig an neuen Klängen arbeiten zu können, richteten sie in Düsseldorf ihr eigenes "Kling-Klang-Studio" ein. Im Spätsommer 1970 baten Hütter und Schneider zur Aufnahme der ersten Langspielplatte "Kraftwerk" die Percussionisten Klaus Dinger (später Neu) und Andreas Hohmann ins Studio. Die LP, auf der sie "die Raffinesse zeitgenössisch-elektronischer Musik mit der Dynamik der Rockmusik verbinden" (SOUNDS), gelangte in die deutschen Hitparaden (Platz 30), wurde in mehr als 50.000 Exemplaren verkauft und etablierte die Kraftwerker als "interessanteste Vertreter zeitgenössischer Musik made in Germany" (MUSIK EXPRESS).

Durch häufige Live-Auftritte, die sie zum Teil in Quintett-Stärke absolvierten und bei denen sie sich stets von einer alten Stehlampe mit drei biegsamen, vergilbten Pergamentschirmen bescheinen ließen, wurden sie zum Phänomen der bundesdeutschen Rockszenerie. "Kraftwerk 2" nahmen Ralf Hütter und Florian Schneider, "die Anti-Stars der deutschen Rockszene" (NRZ) allein auf; "und wieder fand der eigenartig stumpf-roboterhafte Kraftwerk-Sound allgemeinen Anklang" (POP) und landete auf Platz 36 der deutschen Hitparade. Im 71er SOUNDS-Poll wählten die Leser Kraftwerk zur Gruppe des Jahres, belegte Florian Schneider (hinter Wolfgang Dauner) Platz 2 in der Rubrik "Musiker des Jahres" und Platz drei bei den "Instrumentalisten des Jahres", das Album "Kraftwerk" wurde unter die drei Langspielplatten des Jahres eingereiht, "Ruck Zuck" als bestes Einzelstück des Jahres genannt.

1972, als die Musiker "mehr auf Schlagsahne standen" (Schneider) und sich live durch Plato Rivera (Bass) und Emil Schult (Gitarre) verstärkten, wurden ihre Töne "sensibler, gingen die Assoziationen weicher ineinander über" (NRZ). Da sie ihre Musik ohnehin als in Töne umgesetzte Comic-Strips verstanden, legten sie bei ihrer dritten Langspielplatte "Ralf + Florian" von Emil Schult gemalte Comics bei. Die im Düsseldorfer Eigenbau-Studio aufgenommene und im eigenen "Kling-Klang-Verlag" verlegte "authentische Musik" (Schneider) hatte statt "Strom", "Spule" und "Megaherz" nun Titel wie "Tanzmusik", "Heimatklänge" und "Ananas Symphonie". Nach einem Frankreichkonzert im März 1973 trat Kraftwerk nicht mehr live auf. Die beiden sensiblen Elektroniker, nach deren Melodien das Theaterballett der Württembergischen Staatsoper tanzte und die "der westdeutschen Arbeiterjugend die 'Luft von anderen Planeten' in ihre Städte brachten" (DIE ZEIT), gaben weder Interviews noch Konzepterklärungen von sich. Dafür machte ihr Ende 1974 publiziertes "Autobahn"-Werk Schlagzeilen, für das sie mit Klaus Röder (Geige, Gitarre) und Wolfgang Flür (Percussion) wieder zwei Gastmusiker engagierten.

Die "durch elektronische Hilfsmittel skurril-vertonte Autobahnfahrt, die mächtig abgeht" (SOUNDS), erstmals mit Gesang untermalt, fand auch im Ausland mit ihrem "dynamischen neuen Sound" Beachtung und ließ vermuten, daß Kraftwerk eine "signifikante Rolle in der progressiven Musik zufällt" (CASH BOX).

Die Vermutung war richtig: Das Album kletterte ab Februar 1975 bis auf Platz 5 der amerikanischen Charts, die "Autobahn"-Single kam auf Platz 25 der US-Charts. Danach zog Kraftwerk in die englische Hitparade ein (Single Platz 10, LP Platz 25). Auch in Deutschland gelang ihnen mit Platz 9 (Single) und Platz 7 (LP) eine doppelte Hit-Plazierung.

In perfekter Abstimmung zu ihrem Single- und LP-Erfolg erschien Kraftwerk vom April bis Juni 1975 auf amerikanischen Konzertbühnen. Das Quartett (nun mit Karl Bartos und Wolfgang Flür) zeigte sich in mehr als 50 Vorstellungen im Nostalgie-Look - kurzgeschnittene Haare, Anzüge und Schlips - und schockierte das Show-Mekka Amerika durch eine Anti-Show: "Das Quartett bewegt kaum die Hände", entrüstete sich der SAN FRANCISCO EXAMINER, "und zeigt nicht die geringsten Emotionen. Um zu einem synthetischen Produkt zu gelangen, hat Kraftwerk seine Mitspieler zu Robotern entmenschlicht" Florian Schneider ließ schon damals wissen: "Kraftwerk ist keine Band, es ist ein Konzept, das wir 'Menschmaschine' nennen." In einem Poll des US-Fachblattes CASH BOX wurde Kraftwerk zu den drei Großen der Rubrik "New Vocal Group" gezählt. Vom 5. bis 18. September 1975 gab Kraftwerk elf Englandkonzerte. In einem Leser-Poll des MELODY MAKER ("Menschen oder Maschinen ?") wurde "Autobahn" zu den drei besten Singles des Jahres und Kraftwerk zu den vier "Größten Hoffnungen" gezählt. Auch die Leser der Zeitschrift POP wählten Kraftwerk mit Abstand zur beliebtesten Gruppe des Jahres 1975.

Ihrem fünften Album gaben sie mit dem Titel "Radio-Aktivität" bewußt eine Doppeldeutigkeit und besangen ebenso die Radiowellen wie Madame Curie. "Kraftwerk hat sich noch nie an traditionelle Musikformen gehalten", erinnerte CASH BOX, "und hier setzen sie ihre Demonstrationen meisterhaft fort". Dagegen entdeckte der ROLLING STONE nur "eine Kopie der 'Autobahn'-Techniken". Mit "Radio-Aktivität" konnte Kraftwerk den weltweiten Erfolg von "Autobahn" nicht wiederholen, gelangte aber auch mit diesem Album in die amerikanischen, englischen, französischen (Platz 1!), österreichischen und deutschen (Platz 22) Hitparaden. Am 28.2.1976 war Kraftwerk auf der Bühne des Pariser Olympia zu sehen; am 21.3. umrahmten sie musikalisch das Rotterdamer Science Fiction Festival.

Im Herbst 1976 brach die "beliebteste deutsche Gruppe" (so das Umfrageergebnis der HAMBURGER MORGENPOST) zu einer Deutschlandtournee auf. In Holland, Belgien, Schweiz, Österreich, Frankreich, England (Roundhouse) produzierten sie ihre Roboterklänge mittels Lichtorgel, Sequenzer, elektronische Flöte, zwei Synthesizern, zwei elektronischen Schlagzeugen und einer sprechenden Schreibmaschine. Hütter: "In 20 Jahren werden nach unserer Meinung kaum noch Gruppen mit Gitarren und Schlagzeugen auftreten. Für uns gehören diese Instrumente heute schon der Vergangenheit an."

Entsprechend ihrer Vorstellung, "wir machen Heimatmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet", bestiegen die den "Trans Europa Express" (LP-Titel) und beschreiben die Monotonie des Fahrrhythmus und die wechselnden Schönheiten des Ausblicks. Damit gelang den "peinlich genauen Handwerkern", fand BILLBOARD, "eine Synthese aus elektronischen Effekten und Rockmusik mit zumeist symbolischer Qualität". Und noch mehr: "Mit diesem Album", schrieb der NEW MUSICAL EXPRESS, "haben sie sich von Klangbastlern zur möglicherweise interessantesten Band des Rockbereiches entwickelt". Auch mit diesem Werk zogen sie in die deutschen Hitparaden ein (Platz 32).

Die erfolgreichen Menschmaschinen wurden im Herbst 1977 mit dem "Pop Music Award" ausgezeichnet. Konzerte gaben Kraftwerk 1977 nicht.

Deutsche Fans, die seit Jahren nicht in den Genuß eines Auftritts kamen, durften Kraftwerk am 1. April 1978 in der ZDF-Sendung "Rockpop" sehen. In einer makabren Präsentation stellte die Gruppe gleichzeitig in New York und in Paris ihre Langspielplatte "Mensch-Maschine" vor. Während sich die Musiker (zwei in New York, zwei in Paris) unter die Premierengäste mischten, stellten sie originalgetreue Puppen ins Rampenlicht. Hütter: "Während unsere Roboter für Fotosessions und Presseempfänge zur Verfügung stehen, können wir uns anderen Dingen widmen." Mit dem "unterkühlt majestätischen Album" (MELODY MAKER) gelang ihnen "eine nahezu perfekte Umsetzung ihrer musikalischen und politischen Ambitionen" (NEW MUSICAL EXPRESS).

Die Menschmaschine Kraftwerk ließ sich von Künstlern wie Fritz Lang (Regisseur des Kultfilms "Metropolis") und El Lissitzky (Kunstform des Konstruktivismus) inspirieren und verkündete: "Wir fühlen uns mit dem Futurismus der 20er Jahre geistig verwandt und versuchen, die Kunstformen dieser Epoche fortzusetzen." Der MELODY MAKER sah dies musikalisch bestätigt: "Im Gegensatz zu den romantischen Tönen von Tangerine Dream gibt sich Kraftwerk mechanisch bis zum Letzten und somit inhuman". Erst der Vergleich mit ihren Frühwerken zeigt, daß die Kraftwerk-Klänge heute harmonischer, präziser und auch romantischer sind. Die Gruppe verkaufte allein von ihren drei letzten Alben in Deutschland über 600.000 Exemplare und brachte auch das Album "Mensch-Maschine" in die deutschen Hitlisten (Platz 12). Die Single "Roboter" kam bis auf Platz 5 der Hit-Notierungen. Ein Angebot zur Präsentation ihrer Single in der "ZDF-Hitparade" nahmen sie nicht zur Kenntnis.

In der Perfektion der Roboter, der Identität von Mensch und Maschine, sah Ralf Hütter die Zukunft: "Mit den Mensch-Maschinen können wir dann an verschiedenen Plätzen simultan Konzerte geben."

Dazu kam es gottlob nicht. Drei Jahre ließ das Quartett auf ein musikalisches Lebenszeichen warten. Dann erschien "Computerwelt". Und wieder einmal war Deutschlands erfolgreichster Rockexport musikalisch und thematisch zwei Schritte voraus. Die Computerisierung unserer Gesellschaft, ein Thema, das erst zwei Jahre später ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangte, "gehört für uns schon zum Alltag. Mikroelektronik und die galoppierende Durchdringung unsres Lebens mit Technik haben wir im Bewußtsein" (Hütter). "Wenn man mit den Knöpfen des Synthesizers spielt," so Hütter, "erfährt man, daß der Klang in Sekundenschnelle von Hoffnung in Horror umschlägt. Ich glaube, daß das auch die Geschichte der Menschheit im zwanzigsten Jahrhundert sein wird." Was DER SPIEGEL als "bierernst-einfältige akustische Illustration ihrer Computerwelt" abtat, empfanden andere als "sensationell gut" (MUSIK EXPRESS) und "innovativ" (RECORD WORLD). "Ihr einzigartiger Sound wurde von anderen Gruppen plagiiert und popularisiert", kommentierte der MELODY MAKER, "aber niemand hat bisher die spannungsreiche und klassische Reinheit ihrer Musik erreicht. 'Computerwelt' ist ihr erstes Popalbum." Tatsächlich verpackten Kraftwerk Codeworte wie "Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flensburg und das BKA haben unsere Daten da" in gut tanzbare Computer-Musik. Das Album landete auf Platz sieben der deutschen LP-Charts. Mitte 1981 begann eine halbjährige Welttournee, die Kraftwerk u.a. durch England, Japan und die USA führte. Nach sieben (!) Jahren stand die Gruppe erstmals wieder auf deutschen Konzertbühnen. Mit Synthesizern, Sequenzern, elektronischem Schlagzeug, Lichtorgeln, singenden Computern, Vocodern, Mischpulten, elektronischen Orgeln und Großbildschirmen, auf denen farbige Klang-Tableaus flimmerten, zelebrierten Hütter, Schneider, Bartos und Flür "ein beeindruckendes Konzerterlebnis" (MUSIK EXPRESS), das schließlich "jedermann auf die Beine brachte" (MELODY MAKER). Eindrucksvoll bewies das Quartett, daß Computermusik nicht zwangsläufig emotionslos und kopflastig sein muß.

Überraschenderweise kam Anfang 1982 die Single "Das Model" (eine Auskopplung aus dem 78er Album "Mensch-Maschine") bis auf Platz 1 der englischen Charts. Danach zog die Single auch in die deutschen Hitlisten ein (Platz 7). Im Sog des "Models" entstand in England ein wahrer Kraftwerk-Boom. Plötzlich standen drei Alben in den britischen Charts: "Computerwelt" auf Platz 7, "Mensch-Maschine" auf Platz 5 und "Trans Europa Express" auf Platz 22.

Via Fernsehen brachte sich Kraftwerk durch die Sendungen "Dreiklangdimensionen" (26.2.82), "Na sowas!" (29.3.) und "Pop Stop" (22.8.) wieder in Erinnerung.

Die ohnehin sehr spärlich bedienten Kraftwerk-Hörer erhielten erst Mitte 1983 ein Gruppen-Lebenszeichen durch die Single "Tour de France", die erneut in England bessere Hit-Notierungen (Platz 20) erhielt als in ihrer Heimat (Platz 47).


KRAFTWERK (1970)
KRAFTWERK 2 (1971)
RALF + FLORIAN (1973)
AUTOBAHN (1974)
RADIO-AKTIVITÄT (1975) Kling-Klang 1C 062-82087
TRANS EUROPA EXPRESS (1977) Kling-Klang 1C 064-82306
MENSCH-MASCHINE (1978) Kling-Klang 1C 058-32843
COMPUTERWELT (1981) Kling-Klang 1C 064-46311

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